Museumsbrief Nr. 29, 1/2023 Die Libelle - eine lange Erfolgsgeschichte mit einem Exkurs zur Evolution des Insektenflugs

Von: Dr. Martin Wittig und Dipl.-Biol. Ellen Ploss
auf 24 September 2023

Die Libelle - eine lange Erfolgsgeschichte - mit einem Exkurs zur Evolution des Insektenflugs

Dr. Martin Wittig und Dipl.-Biol. Ellen Ploss,- 2023

 

2021 schenkte der Amateurpalaeontologe Hubert Wohlfromm dem Sieblos-Museum  Fossilien aus der „Theerkohlengrube“ Sieblos, die er in den 80er Jahren des letzten Jahrhunderts persönlich gesammelt hatte.

In diesem Museumsbrief soll ein Fossil dieser Schenkung dargestellt werden, das Fossil einer Libellenlarve der Art Lestes vicina HAGEN.

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Abb. 1: Libellenlarve Lestes vicina HAGEN, Länge 15 mm, geborgen von H. Wohlfromm und bestimmt von E. Martini, Alter: 33,9 bis 28,1 Mio Jahre (Unteroligozän)

Diese Libellenart wurde 1858 von Dr. med. H.A. Hagen in Königsberg wissenschaftlich beschrieben. In einer seiner Veröffentlichungen 1885 finden sich auch zwei Abbildungen von fossilierten Flügeln dieser Libellenart in ihrer Erwachsenenform aus der „Theerkohlengrube“ Sieblos. 

Hagen Abbildung Libellenflügel 1
Hagen Abbildung Libellenflügel 2

Abb. 2: Detailskizzen eines fossilierten Libellenflügels aus der „Theerkohlengrube“ Sieblos, ebenfalls der Art Lestes vicina HAGEN aus der Veröffentlichung von H.A. Hagen 1858

 

Libellen gehören zu dem Stamm der Gliederfüßer (Arthropoden). Deren typischer Körperbau gliedert sich in Kopf (Caput), Brust (Thorax, aus drei Segmenten aufgebaut) und Hinterleib (Abdomen, aus 10 Segmenten aufgebaut). Diese drei Körperteile sind in der Klasse der Insekten mehr oder weniger klar voneinander getrennt, wodurch sich auch der Namen „Kerbtiere“ für Insekten im deutschen Sprachraum erklärt.

Die Ausbreitung des Stammes der Gliederfüßer (Arthropoden) begann vor ungefähr 450 Millionen Jahren am Ende des Ordoviziums, kurz nachdem die ersten Landpflanzen auftraten. Die Insekten, die artenreichste Klasse unter den Gliederfüßern, lassen sich seit über 400 Millionen Jahren vom Devon an nachweisen.

Unter den geflügelten Insekten gehören die „Libellenartigen“ erdgeschichtlich zu den ältesten Formen. Die Vorfahren unserer Libellen lebten bereits vor 315 Millionen Jahren in den Sumpfwäldern des oberen Karbons. Im Vergleich zu den heutigen Libellen waren die Augen wesentlich kleiner und die Flügel einfacher gestaltet. Sie besaßen vereinzelt ein zusätzliches rudimentäres drittes Flügelpaar am vorderen Brustsegment. Es gab Riesenformen mit Flügelspannweiten von bis zu 70 cm. Eine größere Flügelspannweite erfordert eine stärkere Muskulatur, die wiederum einen höheren Sauerstoffbedarf hat. Die Luftröhren (Tracheensystem) haben bei den Libellen nur eine begrenzte, die Muskelgröße limitierende Leistungsfähigkeit.

Eine Theorie erklärt, wie diese enormen Flügelspannweiten trotzdem ermöglicht wurden: sie nimmt an, dass der im Karbon im Vergleich zu heute um 9% höhere Sauerstoffgehalt von 30% in der Atmosphäre die Effizienz der Atmung ausreichend steigern konnte.

Die Vorfahren der heutigen Libellen lassen sich in Ablagerungen  des unteren Perms vor ca. 290 Mio Jahren nachweisen, während die unmittelbaren Vorfahren der heute noch lebenden Libellenarten seit 150 Mio Jahren existierten, also seit dem Jura.

Exkurs:

Der Häutungsprozess der Gliederfüßer:

Insekten - und somit auch die Libellen - besitzen ein Außenskelett und gegliederte Extremitäten, Wirbeltiere ein Innenskelett.

Die Anatomie der Gliederfüßer unterscheidet sich somit grundsätzlich von der der Wirbeltiere.

Die Gewebe im Körperinneren der Insekten sind von einer blutähnlichen Körperflüssigkeit umspült, der Hämolymphe. Gefäße kommen nur in wenigen Körperabschnitten vor. Das Außenskelett wird von einer Hautschicht gebildet, die aus einer einlagigen Zellschicht besteht. Diese produziert ein weiches Sekret aus Eiweißen und Chitin, welches aushärtet und den starren Panzer, das Außenskelett, bildet. Dieser schützt den Körper, hat aber den Nachteil, dass ein Wachstum durch Volumenzunahme unmöglich wird. Diese Einschränkung wird dadurch umgangen, dass der Panzer von Zeit zu Zeit gesprengt und abgestoßen wird und der Insektenkörper einen Wachstumsschub durchläuft, an dessen Ende ein neues größeres Außenskelett gebildet wird. Dieser Prozess wird Häutung genannt.

 

Die Libellen, deren erstaunliche Flugkünste uns faszinieren, verbringen jedoch, von uns eher unbemerkt, den größten Teil ihres Lebens räuberisch im Wasser. Dort verbringen sie ihre Larvenzeit, in der sie wachsen und sich mehrfach häuten.

Es gibt keine Fossilien von Libellenlarven aus der Zeit vor Beginn des Mesozoikums vor 251,9 Mio Jahren. Es könnte sein, dass damals noch keine wasserlebenden (aquatischen) Larven existierten, die sich in Fossilien hätten erhalten können.

Das hier vorgestellte Libellenfossil ist die Versteinerung einer solchen Larve, ebenso das im Museum ausgestellte Fossil eines Häutungsrestes einer Libelle.

Libellenlarven sind hervorragend an das Leben im Wasser angepasst. Sie atmen über sogenannte Tracheen, Luftröhren, die sich im Hinterleib befinden. Die Atemgase werden durch Diffusion transportiert, nicht durch ein Kreislaufsystem. Die Kleinlibellen, zu denen auch unser Fossil zählt, besitzen am Ende des Hinterleibs drei blättchenförmige Anhängsel, die am Häutungsrest (siehe Abb. 3) gut zu erkennen sind. Kleinlibellen bewegen sich schlängelnd durch das Wasser und können dabei diese Blättchen als Ruder einsetzen.

Die Libellenlarven durchlaufen je nach Art 8 bis 17 Häutungen. Das Larvenstadium kann bis zu acht Jahre dauern. Im letzten Larvenstadium findet eine Gestaltsumwandlung (Metamorphose) statt, die ohne Puppenstadium abläuft:

Zur letzten Häutung (Schlupf) begibt sich die Libelle an Land und häutet sich zum geflügelten Insekt (Emergenz). Die letzte Larvenhaut bleibt auf der Vegetation zurück. Nach einer Reifungsphase kehren die geschlechtsreifen Libellen (Imagines) zum Wasser zurück und beginnen im Uferbereich mit der Paarung.

Häutungsrest

Abb.3: Fossil eines Häutungsrestes einer Libellenlarve.

Solche Häutungsreste unterschiedlicher Libellenlarven werden häufig in laminierten Kalken und feinschichtigen Kalkmergeln der Sieblos-Schichten gefunden. Gut zu erkennen sind die drei blattförmigen Anhängsel am Hinterleib.

Dieses abgebildete Fossil wird im Sieblos-Museum in der Vitrine zum Thema „Insekten“ ausgestellt.

Die Eier werden abgelegt - ein neuer Lebenszyklus beginnt. Die Lebensspanne als erwachsenes Fluginsekt dauert bei den meisten Libellen nur wenige Wochen bis Monate.

Unsere versteinerte Libellenlarve Lestes vicina HAGEN ist ausgestorben; sie lässt sich jedoch in die Familie der heute vorkommenden Teichjungfern (Lestidae) einordnen. Dadurch können wir Rückschlüsse auf den damaligen Lebensraum im Unteroligozän ziehen:

Lestes sponsa bei der Eiablage Foto Uwe Barth

Abb. 4: Ein heute lebender Nachfahr der ausgestorbenen Lestes vicina: Lestes sponsa bei der Eiablage in Froschlöffel (Alisma plantago-aquatica).  (Foto: Uwe Barth)

Lestes virens Foto Ellen Ploss

Abb. 5: Ein heute lebender Nachfahr der ausgestorbenen Lestes vicina:Lestes virens. Beachtenswert ist das mit den fossilen Flügeln fast identische Flügelgeäder. (Foto: Ellen Ploss)

 

Die Larven dieser Gattung entwickeln sich heute in stehenden und meist flachen Gewässern wie Weihern, Tümpeln oder kleineren Seen. Das ist genau das Umfeld, welches für den Sieblos-See anhand zahlreicher weiterer Hinweise rekonstruiert werden konnte. In stehenden Gewässern können sich Zonen ohne Sauerstoff bilden, in denen Faulschlamm entsteht - wie in Sieblos. Die Fossilien wurden aber nicht in den Faulschlammschichten (Dysodil) des Sees gefunden, sondern in Verbindung mit den darüber liegenden laminierten Kalken aus den sauerstoffreichen Bezirken des Sees. Die Eiablage der Lestiden erfolgt heute meist in Pflanzenteile oberhalb der Gewässer; nur wenige Arten legen sie auch unterhalb der Wasseroberfläche ab. Die Larven leben am Gewässerboden oder an Wasserpflanzen.

Die beeindruckende Erfolgsgeschichte der Insekten und ihrer Evolution hängt auch damit zusammen, dass diese im Karbon und Perm zunächst noch keine natürlichen Fressfeinde hatten.  Ein Meilenstein in der Ausbreitung der Insekten war die Entwicklung der Flugfähigkeit. Dadurch konnten neue Nahrungsquellen erschlossen werden und sie ermöglichte es, Fressfeinden, wie z.B. den am Boden lebenden Spinnentieren, zu entkommen. Im späteren Verlauf der Erdgeschichte kam es zu einer beeindruckenden Koevolution von Blütenpflanzen und Fluginsekten. Die Blütenpflanzen lieferten den Fluginsekten Nahrung, diese begünstigten durch Befruchtung deren Ausbreitung: eine klassische „win-win“-Situation.

In der Evolution des Lebens kam es unabhängig voneinander viermal zur Entwicklung der Fähigkeit zum aktiven Schlagflug:

  • Die Lebewesen, die diesen Flug zuerst erlernten und beherrschten, waren die Insekten. Die Fossilien der ersten fliegenden Insekten stammen aus dem Karbon und haben ein Alter von 320 Mio Jahren.
  • Es folgten die Flugsaurier, die vom Beginn der Obertrias vor 228 Mio Jahren bis zu ihrem Aussterben am Ende der Kreidezeit vor 65 Mio Jahren lebten.
  • Im Jura entwickelten sich die Vögel aus den Theropoden, einer Dinosauriergruppe. Es ist nicht ganz klar, ob der berühmte Archaeopterix aus dem Oberjura (Beginn vor 163,5 Mio Jahren) ein Bindeglied zwischen Dinosauriern und Vögeln ist oder eine ausgestorbene Seitenlinie repräsentiert.
  • Im Eozän, welches vor 56 Mio Jahren begann, entwickelten sich Fledertiere aus der Gruppe der Säugetiere, zu denen die heutigen Fledermäuse und Flughunde gehören.

Kuriositäten, wie z.B. fliegende Fische oder Flughörnchen, beherrschen nur den passiven Gleit-, nicht aber den aktiven Schlagflug.

Da Insekten zu den Gliederfüßern, den Arthropoden, gehören, die Flugsaurier, die Vögel und die Fledertiere zu den Wirbeltieren, den Vertebraten, und beide Taxa fundamentale Unterschiede im Körperbau aufweisen, ist leicht nachzuvollziehen, dass der Flugmechanismus sich vollkommen unabhängig voneinander und unterschiedlich entwickelt haben muss.

Bei den flugfähigen Wirbeltieren wird der Flügelschlag durch den großen Brustmuskel (den musculus pectoralis major) bewirkt, der vom Brustbein zur Innenseite des Oberarmknochens zieht. Die Hebung wird durch seinen Gegenspieler bewirkt, den kleinen Brustmuskel (den musculus supracoracoideus).

Die Insekten besaßen ursprünglich keine Flugfähigkeit. Die Evolution des Fliegens begann mit den Altflüglern, zu denen die Libellen und Eintagsfliegen zählen. 

Wie bei den Wirbeltieren werden die Flügel bei den Libellen direkt durch zwei gegensätzlich wirkende Muskeln angetrieben, Spieler und Gegenspieler (Agonisten und Antagonisten).

Flugmechanismus Altflügler a
Flugmechanismus Altflügler b

Abb. 6: Schematische Darstellung des direkten Flugantriebs bei den Altflüglern, wie z.B. bei den Libellen. Jeder Flügel kann einzeln bewegt werden. (Grafik: Martin Wittig)

 

Durch diesen direkten Antrieb jedes einzelnen der vier Flügel wird die Libelle zu einem Luftakrobaten: sie kann vorwärts, rückwärts, seitwärts, schnell und langsam fliegen.

Die maximale Schlagfrequenz ist allerdings nach oben begrenzt: Nervenimpulse, die eine Muskelkontraktion auslösen, können nicht beliebig schnell erfolgen, da die Nervenfasern eine gewisse Erholungszeit (Refraktärzeit) benötigen, bevor sie einen neuen Impuls weiterleiten können.

Dass diese „Antriebsform“ bei den Libellen über 315 Mio Jahre beibehalten wurde, beweist, dass sie keinen entscheidenden Nachteil beinhaltet.

Neue Möglichkeiten eröffnen oft neue Chancen. Während sich die Flugtechnik des direkten Flugantriebs gut bewährte, entstand mit der Entwicklung der Blütenpflanzen eine neue Nahrungsquelle, die mit der Evolution des indirekten Flugantriebs und einer Umgestaltung des Flügelgelenks besser erschlossen werden konnte. Insekten, die diese Neuerung erwarben, bilden heute die größte Gruppe unter den flugfähigen Insekten.

Was hatte sich geändert?

Der Flügelaufschlag erfolgt bei der indirekten Flugmuskulatur dadurch, dass sich der Rückenschild (Tergum) des Brustsegmentes dem Bauchteil (Pleura) durch Zusammenziehen von Muskeln nähert, die von der Rücken- zur Bauchseite verlaufen. Eine im Brustkorbsegment verlaufende Längsmuskulatur bewirkt eine Wiederaufwölbung des Rückenschildes, die über einen Hebelmechanismus zum Flügelabschlag führt. Das Prinzip Agonist und Antagonist wird beibehalten, jedoch wird bei diesem Mechanismus der Flügel indirekt angestoßen und zum Schwingen gebracht. Dabei können höhere Schlagfrequenzen erreicht werden, der Flügel kann aber nicht mehr einzeln direkt bewegt werden.

Flugmechanismus Neuflügler a
Flugmechanismus Neuflügler

Abb. 6: Schematische Darstellung des indirekten Flugantriebs, wie z.B. bei den Bienen. Die gegensätzlich wirkenden Muskeln stoßen Schwingungen der Flügel an. Dadurch können hohe Schwingungsfrequenzen erreicht werden. (Grafik: Martin Wittig)

Die andere evolutionäre Neuerung, die Umgestaltung des Flügelgelenks, ermöglichte den Neuflüglern, die Flügel parallel zum Körper anzulegen, eine Fähigkeit, die den Altflüglern fehlte.

Was waren die Konsequenzen?

Ein „Nachteil“ war, dass diese moderneren Insekten nur noch geradeaus oder in Kurven, jedoch nicht mehr rückwärts oder seitwärts fliegen konnten. Dadurch konnten sie besser gejagt werden.

Der „Vorteil“ des indirekten Flugantriebs bestand darin, durch eine höhere Schlagfrequenz die Flügelflächen kleiner halten zu können.

Dies und die Möglichkeit, die Flügel anzulegen, stellten einen Meilenstein in der Evolution des Insektenflugs dar, da sich die Fluginsekten nun in engen Spalten und Ritzen vor Fressfeinden verbergen konnten und es ihnen ermöglicht wurde, in enge Blütenkelche zu krabbeln, um an Nektar zu gelangen. Damit wurde die rasante Koevolution zwischen Blütenpflanzen und Insekten eingeleitet. Das ist aber eine weitere spannende Geschichte…  

Literatur:

Hagen, H. A. (1858): Zwei Libellen aus der Braunkohle von Sieblos. Palaeontographica, 5: 121-124, Taf. 24. Cassel

Martini, E. (1971): Neue Insektenfunde aus dem Unter- Oligozän von Sieblos/Rhön, Senck. Lethaea 52 (4), 359-369, Frankfurt/ Main

Sadava, D, Hillis, D. M., Craig Heller H., Hacker S.D., (2019): Purves Biologie, Springer Spektrum

Schmitt, M. (2022): Insektenwunderwelt – Einstieg in die Entomologie, S. 12- 23, S 114-117, Springer

Sternberg, K., Buchwald, R. (1999): Die Libellen Baden-Württembergs. Bd.1: Allgemeiner Teil: Kleinlibellen (Zygoptera), Verlag Eugen Ulmer, Stuttgart (Hohenheim); 468 S.

Wildermuth, H., Martens A. (2014): Taschenlexikon der Libellen Europas, Quelle & Meyer Verlag Wiebelsheim

Verfasser:

 

Dr. Martin Wittig                            Dipl.-Biol. Ellen Ploss

v.- Steinrückplatz 1                       v.- Steinrückplatz 1

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